von Christine Hierer

Reise-FOMO: Warum wir beim Reisen nicht alles sehen müssen  

„Wenn wir schon mal dort sind, müssen wir aber unbedingt noch dieses und jenes ansehen!“ 

 „Ich würde total gerne noch mal nach [XY] reisen, aber da war ich ja schon einmal, so habe ich mich dann doch für ein anderes Reiseziel entschieden.“ 

„Wir haben aber nur maximal zwei Tage dort, dann müssen wir weiter, damit wir unser Programm auch wirklich schaffen.“ 

Hand aufs Herz: Kommen dir Sätze oder Gedanken wie diese während deiner Reise bekannt vor?  

Kommando: bloß nichts verpassen! 

Ich bin ganz ehrlich: Für mich gehörten solche Aussagen lange Zeit ins Standardrepertoire meiner Reiseleidenschaft. Teilweise tun sie das nach wie vor. Immerhin jedoch nicht mehr so extrem wie in früheren Zeiten, in denen sich mein Reisestil wohl insbesondere am Credo ‘so viel (Neues) sehen wie möglich und dabei ja nichts verpassen’ orientierte. 

Ein Credo, das ich nicht nur in der Theorie sagte, sondern ebenso mit Bravour in die Praxis umsetze: Ich tourte in einer flotten Geschwindigkeit von Ort zu Ort, ohne mir auch nur eine Sekunde zu viel Zeit zu lassen. Was im Reiseführer stand und als wichtige Sehenswürdigkeit galt, musste in strikter Touri-Manier abgefrühstückt werden, coole Aktivitäten oder kulinarische Erlebnisse durften nicht zu kurz kommen und bei der Auswahl meiner Reiseziele stand immerzu fest: Hauptsache irgendwo hin, wo ich noch nie zuvor war. 

Ich wollte alles sehen und stets Neues erkunden. Erholsame Auszeiten in der Hängematte oder weniger gut gefüllte Reisepläne kamen mir ganz sicher nicht in den Rollkoffer.  

Achtung, ich habe Reise-FOMO 

Ja, ich kann ganz klar zugeben: Ich litt an Reise-FOMO. „An bitte, was!?“, werden sich die ein oder anderen jetzt wahrscheinlich fragen. FOMO – das ist ein sehr neumodischer Begriff, der für ‘Fear of missing out‘ steht, also die Angst, etwas zu verpassen.  

Vor allem jüngere Generationen verwenden diese vier heiteren Buchstaben häufig, wenn es um Events oder ums Ausgehen geht. Wenn man einfach nicht anders kann als „Ja!“ zu sagen und alles mitnehmen muss, weil man eben schlichtweg nichts verpassen will. Doch auch beim Reisen, so scheint es mir, ist FOMO ein großes Thema.   

Das bin ich, stets bemühte digitale Nomadin 

Doch, von vorn …  

Reisen ist für mich mittlerweile keine mit fröhlichem Smiley im Kalender markierte Ausnahme mehr, sondern mein ganz normales Leben. Als Freelancerin und digitale Nomadin bin ich heutzutage auf der ganzen Welt unterwegs. Und damit das ohne mentalen Zusammenbruch hinhaut, habe ich mir sukzessiv einen bewussten Reisestil auf die Globetrotter-Fahne geschrieben:  

Ich versuche, weniger Orte auf meine Travel-Agenda zu setzen und mir in diesen Orten viel Zeit zu lassen. Gleichzeitig achte ich darauf, meinen Sightseeing-Stundenplan nicht zu überfüllen wie den Teller beim All-inclusive-Buffet am Roten Meer. 

Immerhin (so habe ich es insbesondere in meiner Zeit als digitale Nomadin gelernt) bestehen fremde Länder und Städte nicht nur aus touristischen Highlights. Nein. Sie bestehen genauso aus einzigartigen Menschen, Kulturen und Atmosphären. Dinge, die sich nicht einfach „erledigen“ lassen wie der Rundgang durch die örtliche Kathedrale, sondern gefühlt und durch und durch erlebt werden wollen.  

Reisen ist keine To-do-Liste 

Diese wunderbare Leidenschaft ist schlicht und einfach keine To-do-Liste, die es mit präziser Sorgfalt abzuarbeiten gilt. Deswegen bemisst sich „erfolgreiches“ Reisen für mich auch nicht mehr daran, wie viel man gesehen und getan hat. 

Und ja, das dürft ihr gerne auch Opa Hans und Oma Erna sagen, wenn sie euch mal wieder kopfschüttelnd und mit skeptisch-belächelndem Blick ansehen, während ihr ihnen offenbart, dass ihr bei eurem letzten Städtetrip leider nicht jede Kirche im Ort ausgekundschaftet habt. 

Doch versteht mich nicht falsch: natürlich will ich mit all dem nicht sagen, dass man sich nun gar keine Sehenswürdigkeiten mehr ansehen sollen. Ich halte es für gut, sich über die Geschichte und Kultur der bereisten Länder zu informieren und sich relevante Spots anzusehen: Gebäude, Viertel, Museen und so weiter. Es ist wichtig, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Für mich aber macht die richtige Balance hier letzten Endes wohl den perfekten Travel-Soundtrack. 

Wenn Urlaubstage heilig sind 

Doch gerade für Menschen, die aufgrund Ihres Jobs nur eine kurze Urlaubszeit zur Verfügung haben, ist diese Sache mit dem „Zeit lassen“ natürlich nicht so einfach. Das verstehe ich. Man plant, den Urlaub bestmöglich auszunutzen. Und optimal, das bedeutet in vielen Fällen: so viel wie möglich sehen. Neues sehen. Mehr Stecknadeln auf bisher unbekannte Ecken der Weltkarte setzen (oder wer kennt sie nicht, diese Gedanken à la: „Ich würde ich gerne mal wieder nach XY – doch anderseits habe ich so viele andere Orte auf der Welt noch gar nicht gesehen!“). 

Ich jedenfalls kenne das bestens aus der Zeit, in der auch ich auf meine heilige Handvoll Urlaubstage im Jahr angewiesen war. Und seien wir mal ehrlich: Diese Handvoll Urlaubstage sind einfach zu klein bei einer derart großen und schönen Welt, auf der es so unendlich viel zu sehen und zu entdecken gibt. Ein weiterer Grund wahrscheinlich, weshalb wir uns oft dafür entscheiden, an neue Orte zu reisen, statt solche zu besuchen, die wir bereits einmal gesehen haben.  

Social Media als Messlatte bester Reisemanier 

Doch es sind nicht nur die begrenzte Anzahl an Urlaubstagen, die Verpassens Ängste in uns auslösen können. Ein weiterer FOMO-steigernder Faktor sind unsere Mitmenschen, Medien und allen voran: soziale Netzwerke.  

Erzählen wir von unseren Reiseplänen, wird uns von unseren Bekannten schnell gesagt, was wir nicht alles tun und sehen müssen. Gleichzeitig werden Reiseführer und -zeitschriften immer dicker und schwerer. Und diese Schwere, so wirkt es gar, spiegelt sich auch in dem Druck wider, den sie gewissermaßen auf uns ausüben. Denn natürlich möchte ich noch mehr sehen, wenn mir aus dem Reisewälzer lauter fette Ausrufezeichen mitsamt „Don’t miss!“-Schriftzug zuwinken.  

Und was in den sozialen Medien passiert, wissen wir sicher ohnehin alle: entschleunigendes Yoga-Retreat auf Bali, actionreicher Fallschirmsprung in Neuseeland, beeindruckende Safari in Südafrika, erholsame Hängematten-Entspannung in der Karibik, leckeres Essen in Mexiko, angesagtes Van-Life in Italien, heitere Party in Thailand, antike Ruinen in Peru, faszinierende Wasserfälle auf Island oder eben das üppige All-Inclusive-Buffet in Ägypten.  

Tagein tagaus werden wir auf diversen Plattformen mit vielfältigsten Eindrücken konfrontiert und lassen uns gekonnt präsentieren, wohin auch wir unbedingt noch reisen und was wir unbedingt noch erleben sollten. 

Und ja, an dieser Stelle muss ich mich fairerweise schuldig bekennen – denn auch ich füttere meinen Instagram Feed gerne mit Bildern meines Reiselebens.  

Ich verrate euch ein Geheimnis 

Doch jetzt verrate ich mal etwas: Die Städte, Länder und Regionen, an die ich mich am liebsten zurückerinnere, sind nicht zwangsläufig diejenigen, in denen ich am meisten gesehen und getan habe.  

Nein, es sind diejenigen, an denen ich am meisten Zeit verbracht, genauer gesagt einfach mal durchgeatmet habe. Es sind die Orte, die ich nicht nur „mitgenommen“ und deren Sehenswürdigkeiten und Highlights ich nicht einfach nur im Autopilotenmodus abgearbeitet habe, sondern diejenigen, an denen ich mich kurze Zeit niedergelassen habe; die Orte, in denen ich nicht nur unterwegs war und Touri gespielt habe, sondern diejenigen, in denen ich mich gewissermaßen wie daheim gefühlt habe.  

Es sind die Orte, in denen ich den lieben langen Tag einfach nur im Café oder Stadtpark saß und die Atmosphäre eingesogen habe. Die Orte, in denen ich mehrmals durch die gleichen Straßen geschlendert bin und die Menschen, die in diesen Straßen wohnte, gegrüßt habe. Die Orte, in denen ich die Natur und Kulisse um mich herum mit Zeit und Ruhe bestaunt habe. Die Orte, in denen ich mehrmals zum selben Imbiss bin und mich mit deren Inhabern und Inhaberinnen unterhalten habe. Die Orte, in denen ich frei von allem zeitlichen Druck durch Märkte geschlendert bin und dabei das Treiben um mich herum beobachtet habe.  

Wie so oft im Leben entsteht die Magie des Ganzen also nicht durch die Quantität, sondern durch die Qualität. Weniger ist mehr. Auch beim Reisen.   

Old habits die hard … 

Und nun ist es Zeit für ein weiteres Geständnis: Trotz meines eifrig erreisten Wissens gelingt mir dieser bewusste Reisestil (noch) nicht immer. Manchmal verfalle ich trotz meiner Bemühungen in alte Muster.  

Ich ertappe mich bei Gedanken à la: „Wenn ich schon mal hier bin, sollte ich aber auch noch diesen Ort ansehen und jene Aktivität machen!“ Dabei fühle ich jedes Mal, wie sich ein subtiler Druck in mir ausbreitet, wie mein Kopf anfängt, Tagespläne zu überdenken, wie die Sorge, etwas zu verpassen, in mir aufsteigt und sich eine gewisse Nervosität in mir breit macht. Tja, wie heißt es doch so schön … Old habits die hard!  

Welche Folgen das haben kann, habe ich vor einiger Zeit am eigenen Leib erfahren. In diesen Wochen bin ich nämlich mal wieder zu schnell gereist und hatte mir zu viel vorgenommen: Tag für Tag neue Aktivitäten, neue Menschen, neue Sightseeing-Spots und dann auch noch meine Arbeit, die erledigt werden will.  

Ich habe fortlaufend weitere Eindrücke und Infos in mein Gehirn gepresst. Und das, obwohl meine Aufnahmefähigkeit ab einem gewissen Punkt völlig ausgereizt war und mein Kopf einem bis obenhin gefüllten Eimer unter einem laufenden Wasserhahn glich. Zeit zu verarbeiten, blieb nicht. Doch lasst euch gesagt sein: Diese Zeit benötigt man auch. Und wenn nur zum Erkennen, dass es der falsche Weg ist.  

Wenn die FOMO zum Reise-Burnout führt 

Das Resultat meines (nicht im besten, aber wahrsten Sinne des Wortes) eindrucksvollen Reisestils war pure Erschöpfung. Ich war eines Tages so k.o., dass ich stellenweise überhaupt nichts mehr sehen wollte und die Sachen, die ich sah und besuchte, nicht mehr mit der Begeisterung bewundern konnte, wie ich es gerne getan hätte.  

Da ich mich viel mit anderen Reisenden austausche, weiß ich auch, dass ich nicht die Einzige bin, der es so ergeht. Unter Globetrottern wird dieser Zustand gerne als Reise-Burnout bezeichnet.  

Ist das etwa optimal? Ich glaube nicht. 

Letzten Endes war dieser „Rückschlag“ aber sehr lehrreich für mich. Er hat mir noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig es ist, mir Pausen einzugestehen und meinen Kopf nicht konstant mit neuen Inhalten und Impressionen zu befüllen. 

Kommt heutzutage doch mal wieder die FOMO in mir hoch, so weiß mein neues Reise-Ich recht flott einzuspringen und mich von meinen tückischen Verpassens Ängsten zu befreien. „Nein“, sage ich dann beruhigend zu mir selbst, „ich muss nicht alles gesehen und gemacht haben.“  

Weniger ist mehr 

Natürlich schreibe ich das alles aus der Perspektive meines digitalen Nomadentums. Doch ich denke, auch bei anderen Reisestilen kann man das Prinzip weniger ist mehr gekonnt und individuell integrieren. Beim Roadtrip, beim Backpacking, beim ganz normalen Urlaub, beim Van-Life … Ob man nun zwei Wochen unterwegs ist, zwei Monate oder zwei Jahre; beim Stadturlaub, Ländertrip oder der Weltreise.  

Denn alles, was ich letztlich sage, ist: Stopft nicht alles voll, sondern gönnt euch genug Zeit zum Durchatmen, Wahrnehmen und Verarbeiten – ob das in der an die Reise angepassten Umsetzung nun eine Stunde ist oder eine ganze Woche benötigt. Wir müssen nicht alles sehen. Ich denke sogar, es ist gar nicht möglich, alles zu sehen. Sich dessen bewusst zu werden, gerade auch unter dem Druck der Social-Media-Activities der gefolgten Accounts, erfordert eine reale Selbsteinschätzung und ein hohes Maß an Disziplin. Und ist nicht von heute auf morgen zu erlernen. Rückfälle sind vorprogrammiert. Das zu akzeptieren und dann wieder bewusst gegenzusteuern, ist schwierig und bedingt einen Lernprozess.  

Mir selbst einzugestehen und zu akzeptieren war in der Tat ein wesentlicher Schritt raus aus der Reise-Fomo und hin zu einem gesunden Reiselifestyle: Ein wesentlicher Schritt, um Reisetipps von Bekannten als reine Empfehlungen aufzunehmen und nicht direkt mit einem „okay, muss ich unbedingt machen!“-Label zu versehen; ein wesentlicher Schritt, um Travel-Content bei Instagram und Co. als Inspiration und mit Freunde, aber ohne aufkommenden Druck anzusehen; ein wesentlicher Schritt, der mein (und vielleicht auch dein?) Wohlbefinden schlichtweg und maßgeblich gesteigert hat.  

Verpassen? Yes, please! 

Heute denke ich, es ist gut und vernünftig, nicht alles zu sehen und manches gekonnt zu „verpassen“. Denn dadurch schenkt man sich selbst die Möglichkeit und Zeit, das, was man sieht und macht, wirklich zu spüren und wirklich zu erleben, statt es einfach nur durchzuziehen. Abschließend gehe ich jetzt einfach mal so weit zu sagen: Es sollte uns eine Freude sein, etwas zu verpassen, statt Leidensdruck zu verursachen.  

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Über die Autorin: Christine Hierer

Die gebürtige Fränkin hat Kommunikation studiert und anschließend in ihrer Wahlheimat Berlin im Marketing gearbeitet. Irgendwann aber war der reiseaffinen Wortakrobatin klar: Es ist Zeit, raus in die Welt zu gehen! Sie hat sich als Marketingberaterin und Texterin selbstständig gemacht, ihren Backpack auf den Rücken geschnallt und ist losgezogen. Heute reist sie als digitale Nomadin durch die Weltgeschichte und ist immerzu da, wo sie sich gerade am wohlsten fühlt. Ihre Gedanken, Erfahrungen und Impressionen teilt Christine auf Instagram. Dabei ist es ihr wichtig, nicht nur die Sonnenseiten ihres Lifestyles zu zeigen, sondern ein authentisches, ehrliches und realistisches Bild abzubilden.

Instagram @vonwenigerundmorgen
Website: www.christinehierer.com

 

Text & Bildnachweise: Christine Hierer

Christine Hierer

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