von Jessica Zenner

Abenteuer Amazonas – Mit dem Frachtschiff von Kolumbien nach Peru

Es war bereits später Nachmittag, und wir hatten nicht viel Zeit. Nachdem wir acht Wochen durch die abgelegensten und schönsten Orte Kolumbiens gereist waren, sollte es für uns und unsere Rucksäcke nun ins nächste Land gehen: Peru. Die letzten Tage hatten wir im Dschungel Leticias verbracht, einer Kleinstadt im sogenannten „Dreiländer-Dreieck“ direkt am Amazonas, welcher die Länder Kolumbien, Peru und Brasilien voneinander trennt. Sie liegt so weit von der Außenwelt abgeschieden, dass man sie nur mit dem Schiff oder Flugzeug erreichen kann. Hauptgrund dafür, dass wir an diesem abgelegenen Ort in den Tiefen des Dschungels gelandet waren, war dem unabdingbaren Wunsch meines Partners Tobi geschuldet, einmal mit einem Frachtschiff über den Amazonas von Kolumbien nach Peru zu schippern. Von dieser Möglichkeit hatte er „mal irgendwo gehört“, und seitdem von nichts anderem mehr gesprochen. Ich selbst war zugebenermaßen ganz und gar nicht begeistert von dieser Idee. In meinen Gedanken sah ich zwei ahnungslose Touristen zusammen mit hunderten Einheimischen auf einem überladenen Frachter ohne Sicherheitsvorkehrungen, ohne so etwas wie einen TÜV, mit Minusgeschwindigkeit über den Amazonas schippernd, der für seine Piraten und Drogenschmuggel bekannt ist. Nachdem Tobi mich allerdings wochenlang bearbeitet hatte stand ich nun mit ihm in Leticia – und hatte keine andere Wahl. 

Wann genau der Frachter abfährt, konnte uns niemand so genau sagen. Auch im Internet wurden wir nicht fündig. Wir versuchten, die Menschen am Hafen nach den Zeiten zu fragen, aber die Antworten waren so abwechslungsreich wie meine Stimmung. Während sich die einen sicher waren, dass der Frachter um 17 Uhr abfahren würde, berichteten manche sogar, dass der Frachter gar keine Passagiere mehr mitnehmen würde. Na das ging ja schon gut los. Eines war jedoch sicher: sollte es fahren, durften wir es auf keinen Fall verpassen, denn für die kommende Nacht hatten wir keine Unterkunft mehr. Wir nahmen uns also vor, so schnell wie möglich auf die andere Seite des Flusses zu kommen, von wo der Frachter abfahren sollte. Schwitzend und keuchend durch die hohe Luftfeuchtigkeit rannten wir mit unseren Rucksäcken auf dem Rücken durch die Gassen des kleinen Hafenbereichs in Leticia, um letzte Besorgungen zu machen. Für die Tour benötigten wir eine Hängematte, Seile zum festbinden und Trinkwasser. Auch wenn für das Essen auf der Fahrt wohl gesorgt sein sollte, kauften wir noch ein paar Snacks und zwei Dosen Bier. Dann spurteten wir zum Anleger. 

Die Sonne stand bereits tief und tränkte den Amazonas in ein tiefes, wunderschönes Orange. Kleine Fischerboote standen wie Taxis bereit, um Menschen von A nach B zu bringen. Doch wie erklärt man ohne große Spanischkenntnisse, dass wir auf die andere Seite zum Anleger eben genau jenes Frachtschiffes wollten, welches am Abend nach Iquitos in Peru aufbrechen sollte, ohne zu wissen, wie das Schiff aussah, oder ob es überhaupt noch existierte? Viel Zeit um einen anständigen, verständlichen Satz auf Spanisch zu Überlegen blieb uns nicht. Die Taxi-Bootfahrer fielen über uns her wie hungrige Piranhas. Und die gab es im Amazonas wirklich zu genüge! Mit einem verlegenen „Barco a Iquitos?“, was so viel bedeutet wie „Boot nach Iquitos?“ stiegen wir in eines der vielen Boote ein und der Fahrer versicherte uns mit einem „Sí, vale, a Iquitos“, dass er verstand, was wir meinten. Als nach uns allerdings noch 4 weitere Personen ohne großes Gepäck aufs Boot sprangen, taten sich erste Zweifel auf. Hatte er uns wirklich verstanden? 

Die Überfahrt auf die peruanische Seite dauerte ca. zehn Minuten. Die Sonne befand sich mittlerweile in ihren letzten Atemzügen, und ich genoss den grandiosen Anblick der kleinen Fischerhütten auf Stelzen im orange-rot funkelndem Wasser. Als der Fahrer anhielt und wir aussteigen wollten, hielt er uns zurück. Er murmelte erneut ein leises „Iquitos, Sí…“ und lies die anderen Passagiere raus. Für eine kurze Zeit schlich sich der Gedanke in meinen Kopf, dass er uns nach Iquitos bringen wollte. Das hatte er doch nicht etwa wirklich vor?  

„Fast Ferry, Sí?“ fragte er uns. „No, Slow Ferry“. Auch wenn uns die Fast Ferry innerhalb kürzester Zeit nach Iquitos gebracht hätte, wollten wir unbedingt die langsamere Fähre nehmen, um die Fahrt in vollen Zügen genießen zu können. Dann brachte er uns zu einem riesigen Militärschiff. Mir fiel die Kinnlade herunter. Das konnte doch nicht wahr sein! In wenigen Minuten könnte das Frachtschiff vom Hafen ablegen, und wir dümpelten irgendwo auf dem Amazonas herum, als hätten wir alle Zeit der Welt. Ich atmete ein und versuchte ihm noch einmal zu erklären, dass wir die langsame Fähre nehmen wollten. Mit einem Kopfschütteln wendete er schließlich das Boot und hielt kurze Zeit später direkt vor einem alten Frachtschiff. 

Auf den ersten Blick war ich so sehr geschockt über den Zustand des Schiffes, dass ich mich doch glatt zurück zum Militärschiff wünschte. Als uns der Kapitän jedoch mit einem herzlichen Lächeln an Bord begrüßte und uns den Weg aufs Passagierdeck erklärte, war der erste Schock sofort verflogen. Für die Passagiere standen drei Decks zur Verfügung. Weil die ersten beiden bei unserer Ankunft schon gut gefüllt waren, suchen wir uns ein gutes Plätzchen für unsere Hängematten auf dem obersten Deck. Kaum waren diese aufgehangen, drehten die Polizei und der Zoll ihre Runden, um die Pässe zu kontrollieren. Den Stempel für Peru hatten wir uns schon vorher in Leticia geben lassen, auf dem Schiff war das nicht mehr möglich.  

Gegen 20 Uhr ertönte ein lautes Hupen und das alte Frachtschiff setzte sich in Bewegung. Es fuhr also wirklich noch! Entgegen meinen Erwartungen war unser Deck noch immer recht leer, lediglich vier weitere Backpacker und eine Hand voll Einheimischer hatten ebenfalls ihr Nachtlager aufgeschlagen. Wir setzten uns ans Geländer und stießen mit zwei Dosen Bier darauf an, es tatsächlich aufs Schiff geschafft zu haben. Es war bereits dunkel, weshalb wir von der Umgebung außerhalb des Schiffes nicht mehr viel sehen konnten. Trotzdem war die ruhige Stimmung auf dem Schiff irgendwie wohltuend, nur das leise Dröhnen des Motors war zu hören. Der leichte Fahrtwind fühlte sich nach dem anstrengenden und heißen Tag wunderbar kühl an. Wir saßen eine Weile so da und unterhielten uns über Gott und die Welt. Dabei merkten wir gar nicht, dass wir mittlerweile die einzigen waren, die noch wach waren. Mit dem Bier in der Blase ließ es sich natürlich nicht lange warten, bis ich das erste Mal auf die Toilette musste. Auf dem Weg dorthin lief ich an einem Mann in Camouflage vorbei, der mir mit düsterer Miene zunickte. Hatte der da etwa ein Gewehr in der Hand?  

Etwas später hatte Tobi die Idee, sich über das Geländer ins hintere Teil des Schiffes zu schleichen, um dort die Sterne zu beobachten. Ich ließ meinen Blick über das Deck schweifen. Alle schliefen. Ich stimmte zu und wir kletterten drüber. Über uns funkelte der schönste, hellste, mächtigste Sternenhimmel, den ich je gesehen hatte. Einen kurzen Moment standen wir einfach nur da, Hand in Hand – fast schon kitschig, den Blick in Richtung Himmel gerichtet. 

Plötzlich ertönte ein lauter Knall. „War das ein Schuss?“, fragte Tobi. Dann fiel es mir wieder ein. Natürlich, der Mann mit der Waffe! Mir kam der mulmige Gedanke, er hätte uns erwischt und einen Warnschuss abgegeben. Man kann sich nicht ausmalen, wie schnell ich wieder an meiner Hängematte war. Ich bewegte mich keinen Meter mehr, zu groß war die Angst vor dem Mann mit der Waffe. Es dauerte eine Weile, bis ich schlief. Auf die Hitze des vergangenen Tages folgte eine eisige Kälte. Mit war vorher nie bewusst, dass es im Amazonasgebiet so kalt werden konnte. Schlussendlich fand ich mich in Tobis Rettungsdecke aus seinem Erste-Hilfe-Set wieder, die so laut raschelte, dass ich Angst hatte, damit das ganze Deck zu wecken. Ich merkte noch, wie das Schiff an einen Hafen anlegte, als ich endlich in einen tiefen Schlaf fiel. 

Das Kitzeln der Sonne auf meiner Nasenspitze war es, das mich aufweckte. Eingemummelt in meiner Hängematte liegend sah ich mich um. Der Himmel war rosa, das Wasser funkelte im Morgengrauen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Dämmerung musste gerade begonnen haben. Ich checkte die Lage. Die anderen auf dem Schiff schliefen noch und wir standen mit dem Frachter an jenem Hafen, den wir in der Nacht angefahren hatten. Der Motor war aus. Verschlafen wackelte ich vorsichtig zur Reling, um den Sonnenaufgang zu sehen. Das kleine peruanische Dorf am Ufer des Amazonas schlief ebenfalls noch und kurzzeitig bekam ich das Gefühl zu träumen. Dieser Anblick konnte doch nicht real sein! War ich wirklich hier? All diese alten, hölzernen Hütten auf Stelzen, die kleinen Fischerboote, alles sah aus wie im Film. Dann beobachtete ich, wie das Dorf zum Leben erwachte. Nach und nach kamen Fischer aus ihren Häusern und liefen zu ihren Booten. Es wurde schlagartig lauter. Dann heulte der Motor des alten Frachtschiffes auf und wir setzten unsere Fahrt fort. 

Wenig später kam Tobi mit strahlendem Gesicht zu mir und erzählte, er hätte Delfine gesehen. Als ich schließlich auch einen Blick über das Wasser warf, sprangen tatsächlich mehrere Rosafarbene Delfine neben dem Frachtschiff aus dem Wasser. Wahnsinn, Delfine im Amazonas. Das glaubt mir doch niemand!  

So langweilig es auch klingen mag, aber während der Fahrt machten wir nicht besonders viel. Wir lasen, schliefen, aßen, redeten, aßen, schliefen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, sämtliche Blogbeiträge nachzuholen. Letztendlich aber dachte ich nicht ein einziges Mal daran, meinen Laptop herauszunehmen. Die meiste Zeit verbrachten wir in unseren Hängematten und beobachteten das Ufer, das im Schneckentempo an uns vorbei zog. Ab und zu rannten Kinder aufgeregt von ihren kleinen Hütten zum Fluss runter, um das Schiff zu sehen. Für sie musste es jedes Mal ein Highlight sein, wenn das alte Frachtschiff auf dem Amazonas an ihren Hütten vorbeikam. Mit der Zeit entstand ein buntes Treiben auf dem Schiff, und immer mehr Hängematten füllten das Deck. Doch nicht nur Menschen und Produkte schipperten mit dem Frachtschiff auf dem Amazonas. Unter uns befanden sich zeitweise auch Schafe, Ziegen und eine Kuh, die jeweils mit dem Beiboot an Bord gebracht wurden.

Die Einheimischen schauten Videos, sangen Lieder oder winkten in unsere Kamera, wenn wir gerade Fotos machten. Nach Sonnenuntergang wurde es wieder ruhiger, das Licht an Deck erlosch und die Hängematte schaukelte mich tiefenentspannt in den Schlaf. 

Am nächsten Morgen verschlief ich glatt den Sonnenaufgang. Am Abend sollten wir in Iquitos ankommen. Die restlichen Stunden bis zur Ankunft sollten jedoch in ewiger Erinnerung bleiben. Als ich um die Mittagszeit erneut nach vorne zur Toilette laufen wollte, hielt mich einer der Männer zurück. Er gab mir auf Spanisch zu verstehen, dass ich zurück an Deck gehen sollte. Ich sah seine Waffe, fragte ihn nach dem Grund und erklärte, dass ich lediglich zum WC wollte. Dann stellte ich fest, dass der Zugang zu unserem Deck mit einem Gitter und einem dicken Vorhängeschloss verriegelt war. Im vorderen Teil des Schiffes standen weitere Männer in Militärkleidung, die mit ihren Waffen nach vorne zielten. Der Mann schaute mich eindringlich an. „Geh zurück.“ 
Seine Antwort ließ ich mir nicht zweimal sagen. 

Wie ein verschrecktes Reh rannte ich zurück an Deck und erzählte von meinem skurrilen Klo-Erlebnis. Zuerst mag man mir die Story nicht ganz abkaufen, bis ein Schuss fällt. Und noch einer. Wir warfen einen Blick über das Geländer. In sicherer Entfernung fuhr ein kleines Fischerboot vorbei. Da hatte ich meine Antwort. Piraten, die das Militär unseres Schiffes mit ihren Schüssen warnen wollte. Was wir wohl für „Wertgegenstände“ mit uns über den Amazonas schipperten? Ich beschloss für die restliche Zeit bis zur Ankunft, einfach nicht mehr auf die Toilette zu gehen und die Sache auszusitzen. 

Kurz vor Sonnenuntergang fuhr das Frachtschiff in den Hafen von Iquitos ein. Wir verließen das Schiff als letztes. Schweren Herzens drehte ich mich noch einmal um und blickte zurück auf die letzten zwei Tage. Zwei Tage mit dem Frachtschiff auf dem Amazonas, fern ab von jeglicher Zivilisation, ganz ohne Internet. Nur wir, unsere Hängematte und dem Gefühl von purer Vollkommenheit. Ich konnte es nicht in Worte fassen, aber der Amazonas machte etwas mit mir. Zum ersten Mal auf dieser Reise hatte ich das Gefühl, mit mir selbst im Reinen zu sein. 

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Über die Autorin: Jessica Zenner

2017 ließ Jessica ihren Traum Wirklichkeit werden und stieg ohne Rückflugticket in ein Flugzeug. Seitdem ist sie auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Abenteuern: mit dem Auto durchs Outback, Tauchschein in Thailand, aß Dumblings in Shanghai und lernte in Sri Lanka wie man Curry macht; zu Fuß nach Machu Picchu, lernte Spanisch in Kolumbien und schaute in die Augen eines Hais vor der Küste Mexikos. Als freie Autorin schreibt sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse und teilt sie mit uns u.a. auf www.freigereist.com oder auf Instagram unter freigereist. 

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