Neapel – Seine berühmte Krippenstraße, die Amalfiküste & Capri

Text & Fotos von Volker Keller 

Als mein Flugzeug in Neapel landet, ist es spät am Tag. Als der Flughafenbus mich im Zentrum herauslässt, ist es Nacht. Mit dem Taxi fahre ich in mein Hotel im Stadtteil Sanita. Der Taxifahrer erklärt mir, dass ich wegen einer Baustelle ein Stück laufen müsste. Rechts, links, rechts und schon wäre ich am Ziel. Kein Problem! Ich ziehe also meinen Koffer hinter mir her und gehe durch eine menschenleere Straße, in der nur wenige Straßenlampen funktionieren. Die mehrstöckigen Altbauten sehen mitgenommen aus, ihnen fehlt Liebe. Hölzerne Fensterläden sind verschlossen. Rechts, links, rechts, kein Problem, aber auch kein Hotel. Eine Vespa kommt die Straße entlang. Wahrscheinlich habe ich ein Fragezeichen auf der Stirn, der Fahrer hält an und erkundigt sich, wohin ich denn möchte. Ich nenne das Hotel. Links, links, rechts. Einfach zu finden! Und dann ruft er mir vom anrollenden Moped noch zu: „Sei vorsichtig!

Ich bemühe mich, ohne Klischees im Kopf zu reisen. Also verbitte ich mir, bei Neapel an Diebe, an Mafiaopfer in Blutlachen, an Müll und Chaos zu denken. Aber nun die Warnung. Und Müll liegt auch reichlich auf den Bürgersteigen. Manche Autos parken quer, manche Stoßstange an Stoßstange, oder stehen verkehrt herum in der Parklücke. Links, links, rechts ohne jede Verzögerung scheint mir das angemessene Verhalten in einer fremden, etwas unheimlichen Gegend zu sein. Als ich den Namen meines Hotels sehe, bin ich erleichtert. Der Rezeptionist fragt mich, wie meine Anreise gewesen sei und ich erzähle ihm von den letzten 400 Metern. „Die Sanita hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Früher lebten hier Ganoven und Arme, heute ist das anders“, er hält es offenbar für notwendig, dem Vespafahrer zu widersprechen und den Ruf seines Viertels aufzupolieren. Ich habe mir bewusst ein Hotel in diesem Viertel ausgesucht. Hier soll Neapel authentisch und nicht aufgestylt sein.

Der Tag beginnt bei Emilio

Über Nacht hat die Umgebung des Hotels eine Verwandlung durchgemacht. Am Morgen knattern Vespas durch die Straßen, Autos befreien sich aus ihren Parklücken nicht ohne die Fahrzeuge vor und hinter sich anzurempeln, vielstimmiges Hupen, eilige Menschen streben Ziele an, unterbrechen aber ihren Weg in einem Cafe‘ und nippen heißen Espresso aus nur halbgefüllten, dickrandigen Zwergentassen. Neben mir an der Theke pflegen ordentliche Männer in Anzügen und zwei Polizisten in Uniform eine lockere Unterhaltung, während die Kaffeemaschine zischt und qualmt; dem flinken Barista rufen die Stammgäste laufend Bestellungen zu und Emilio hat alle Hände voll damit zu tun. Im Sommer unterscheiden sich Nächte und Tage kaum. Wenn die Temperaturen endlich abnehmen, kommen die Neapolitaner aus ihren Häusern und lassen sich von der Abend- und Nachtkühle durchwehen. Im Sommer bei Durchschnittswerten von 30 Grad Celsius kocht die Stadt, Rettung bringt etwas Wind vom Mittelmeer, aber der Scirocco pustet afrikanischen Wüstenssand in die Stadt: Sommer ist eine harte Reisezeit, im Herbst und im Winter regnet es zwar häufiger, doch der Körper kommt sich nicht vor wie ein Fisch auf dem Trockenen. Welcher Tourist hält sich da denn auch schon länger hier auf? Die meisten sind nur auf der Durchreise nach Ischia, Capri oder an die Amalfiküste, in der gruseligen Camorra-Stadt reicht ihnen eine Busrundfahrt von drei Stunden. Italiener aus anderen Landesteilen wollen sich auch nicht länger in Napoli aufhalten, die vorhandenen Arbeitsplätze reichen schon nicht für die Einheimischen. Den Wohlstand des Landes erwirtschaftet der Norden, die Lombardei und das Piemont. In Mailand und Turin bieten Firmen Arbeit mit guter Bezahlung, und es ist auch nicht so heiß. Der Süden bereitet der italienischen Regierung genauso Sorgen wie der Europäischen Union, die immer mal wieder durch einen drohenden Staatsbankrott aufgeschreckt wird. 

Allen negativen Schlagzeilen zum Trotz gibt es in der Via San Gregorio Armeno, in der Krippenstraße, genug zu tun und ihr guter Ruf schallt durch das ganze Land, lockt ausnahmsweise in den Monaten vor dem Weihnachtsfest die stolzen Mailänder und Turiner nach Neapel – um einzukaufen.

Polizei auf der Piazza – nichts wie weg

Die zwei Kilometer lange Achse Spaccanapoli teilt das Centro Storico. Von ihr aus verzweigen sich nach rechts und links weltabgeschiedene Gassen zu einem Labyrinth. Die Hauswände stehen sich dort so dicht gegenüber, dass gerade mal zwei Leute aneinander vorbeikommen. An den Wänden scheuern sollte man sich nicht – der Putz fällt von ihnen ab. An Balkonen hängt Wäsche, ich höre ein Huhn gackern. Die Neapolitaner sind unter sich, unbeachtet von den Gästen ihrer Stadt, die nur der Hauptgasse folgen. Dort reihen sich Kunsthandlungen, Antiquariate, Lebensmittelhändler, Souvenirshops, Pizzerien und Palazzi auf, bis die nächste Piazza folgt. Glocken läuten von irgendwoher – es läuten von irgendwoher immer irgendwelche Glocken. Einmal im Jahr geschieht sogar ein (vom Vatikan allerdings nicht anerkanntes) Wunder: In der Kathedrale des Stadtpatrons San Gennaro bewahrt man das getrocknete Heldenblut des Märtyrers in Ampullen auf. Bei einem Festgottesdienst drehen und wenden Priester die Flaschen, beten darüber und das Blut verflüssigt sich – ein gutes Omen für die Stadt. Wehe aber, wenn es sich nicht verflüssigt… Der dreischiffige Dom mit tragenden Pfeilern wie Elefantenbeine ist ein Ort der Ruhe fern aller Turbulenzen, sein Altarraum strahlt im goldenen Glanz. Bei aller Altertümlichkeit des Kultes um Gennaro, ist er ganz trendy – er gilt als Heiliger der Androgynen, da er in seiner Person Weiblichkeit und Männlichkeit vereint. Vor dem Dom veranstaltet eine Gruppe von zehn Straßenmusikern eine Session. Jeder mit Instrument kann dazu kommen und mitspielen. Touristengruppen laufen mit Stadtführern über die Piazza Gesu Nuovo. Ich lausche kurz, aber mehr als seine Erklärungen zur Baugeschichte, zieht ein Hütchenspieler meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Unter einem von drei Hütchen liegt ein Kügelchen. Er schiebt die Hütchen mit schnellen Händen durcheinander, hebt sie, lässt das Kügelchen kurz sichtbar werden und schiebt sie weiter hin und her. Angelo lässt grüßen! Unter welchem Hütchen liegt die Kugel? Einer der Herumstehenden wagt eine Wette. Gibt fünfzig Euro und zeigt auf ein Hütchen. Gewonnen! Ein Tourist wagt sich vor. Zeigt auf ein Hütchen, bietet fünf Dollar. Er wird vom Kollegen des Hütchenspielers aufgefordert, seinen Einsatz zu erhöhen. Der Mann ist sich sicher und erhöht auf zwanzig… schneller als er gucken kann, ist sein Geld weg. Jeder meinte klar und eindeutig gesehen zu haben, unter welchem Hütchen die Kugel nur sein konnte – und wurde durch den Trickspieler getäuscht. Der Nächste gewinnt wieder fünfzig Euro. Mir ist klar, dass Gewinner und Trickser ein Team sind. Es reizt mich, zu setzen. Aber nicht auf das angebotene Hütchen, sondern auf eines der beiden anderen. Zehn Euro ist mir das Spiel wert. Der Hütchenmeister guckt mich an, als ob er mir sagen wollte: Bist du blöd? Oder weil er merkt, dass ich anders spielen will als er. Meine zehn Euro darf er sich trotzdem in seine Tasche stecken. Dann geht alles zackig schnell: Ruckzuck werden Hütchen und Kügelchen eingepackt, drei Männer  suchen eiligst das Weite. Polizisten tauchen auf der Piazza auf.

Die Pizzeria Brandi an der Piazza del Plebiscito ging 1889 in die Geschichte ein. Unter einer Markise ist noch ein Tisch frei. Niemals würde ich mir zu Hause eine langweilige Pizza Margherita bestellen, doch am Ort der Erfindung der Pizza ist das ein Muss. Bäcker Raffaele Esposito nahm einen Teigfladen, verfeinerte ihn mit roter Tomatensoße, weißem Mozarella sowie grünem Basilikum und servierte den ersten belegten Teigfladen der Welt seiner Königin Margherita – in Nationalfarben. Der Käse verläuft auf meinem Fladen aus dem Steinofen, ein praller, dunkelbrauner Rand wölbt sich und ist knusprig – Mammamia, die schmeckt! Ein würdiges Wahrzeichen der Stadt.

In der Fußgängerzone der Via Toledo vergisst man, im „armen“ Süden Italiens zu sein. Teuer gekleidete Damen und Herren (wohl aus dem Villenviertel Posillipo oder aus Vomero) tragen Einkaufstaschen mit Aufschriften von Weltfirmen und machen dabei eine ‚bella figura‘. 

Die unterirdische Metrostation stellt ein Kunstwerk dar. Auf der Rolltreppe dringt der Besucher in die Tiefe des dunkelblauen, schimmernden Meeres ein. Was soll ich zu dieser Stadt sagen: Schönheit und Eleganz sind nur eine Straße entfernt von Dreck und Verfall. Neapel kann sich nicht für das eine oder das andere entscheiden. Einen Überblick über die Spaccanapoli und die ganze Stadt bekommt man auf der Festung auf dem Vomerohügel.

Wandern auf Capri 

Die Fähre von Neapel nach Capri ist nicht ausgebucht wie im Sommer. Von den zwei Millionen Touristen im Jahr besuchen die meisten die Insel als Tagesgäste zwischen Mai und September. Am Anleger in Marina Grande warte ich auf Franco. Er will mich mit seinem Auto abholen und zu seinem Apartment Il Giardino dell‘ Arte in der Gemeinde Anacapri fahren. Da kommt er schon. Ein schicker, gepflegter Italiener mit ausgeprägtem männlichem Kinn. Er ist zwar in die Jahre gekommen, aber hat immer noch vollen weißen Bewuchs auf dem Kopf, sein Polohemd spannt sich über einem Wohlstandsbauch. Francos Familie besaß Land auf der Insel und baute Wein an. Einen Teil davon machte er zu Geld und stieg in den Tourismus ein. Seine kleinen Häuser schmücken Kunstwerke, die die Arbeit der Winzer zeigen. Eine Terrasse bietet weiten Blick übers Meer. “Die Blaue Gotte, Grotta Azurra, kannst du nicht besuchen“, klärt er mich gleich auf, „das Meer ist jetzt zu rauh.“ In den warmen Monaten schwimmt er (77-jährig!), jeden Morgen um sechs Uhr in die Grotte und erfreut sich am Einfall des Tageslichts, das sich in der Höhle bricht und sich zu Tiefblau, eben Azur, verwandelt. „Das Meerwasser ist unsere Medizin“, lässt er sich an seiner Gesundheitsphilosophie teilhaben. Ich will wandern – das ist auch gesund, macht Spaß und lässt mich die Schönheit der Insel entdecken. 

Auf dem Marktplätzchen in Capri-Stadt auf der Piazza Umberto beginnt meine Wanderung. Sie führt mich ans Meer und präsentiert mir das Wahrzeichen der Insel, die Faraglionifelsen, die gerade wie Wachtürme im Meer stehen. Es geht hoch zur Grotta Matermania eine Höhle, in der die römischen Heiden die Große Mutter, eine Meeresgottheit, verehrten. An ihre Stelle setzen die katholischen Italiener die Gottesmutter Maria. Von einer Steintreppe aus sehe ich den Arco Naturale, ein Bogen, den die Meeresgottheit wie ein Kunstwerk in einen Felsen geschlagen hat. Auf einer Höhe tritt die Marina Grande in den Blick. Von hier oben regierten zweitweise die römischen Kaiser Augustus und nach ihm sein Kaiser Tiberius das Weltreich. Die Ruine des Palazzo di Tiberio steht noch und macht alle Italiener stolz: Ihren Vorfahren gehörte die halbe Welt. Der Rückweg zur Piazza führt an den schönsten privaten Gärten der Insel vorbei. In einem wachsen sogar gelbe Trompetenblumen. 

Bequem mit einer Seilbahn erreiche ich die Spitze des Monte Solaro. Kaiser Augustus aus Marmor hebt die rechte Hand zum Gruß, die linke fehlt ihm. Ich denke an meine Christus-Figur. Vor ihm tut sich ein Panorama blauer Unendlichkeit auf. Mir fällt ein anderer Aussichtspunkt am Meer ein. „Towards you“ stand dort auf einem Schild. Was ist gemeint? Vielleicht, dass ich einmal meine üblichen alltäglichen Gedanken vergessen soll und einfach nur schauen, ruhig werden, leer werden, mich in die Grenzenlosigkeit verlieren und frei fühlen wie ein Luftballon, der davon schwebt. Jetzt fange ich auch zu philosophieren an. In einem Geschäft in Anacapri kaufe ich eine kubanische Zigarre in Churchill-Maß. Das heißt 17 Zentimeter lang, sie brennt eineinhalb Stunden. Winston Churchill, der ehemalige britische Premierminister, saß hier am Meer und rauchte seine langen Zigarren. Das will ich auch auf meiner Terrasse

 

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Übrigens: Wie alle vorherigen Ausgaben ist diese keineswegs “veraltet”, sondern beinhaltet tolle Reisetipps & spannende Reiseberichte von unseren Autor:innen, die mit der Zeit nicht an Aktualität verlieren!

Über den Autor: Volker Keller

Ein Bremer durch und durch und seit Jahrzehnten reiseverrückt. Seine Motivation? Bestaunt er ein Stück fremde Welt, kann er nicht anders, als ausgiebig Notizen und noch mehr Fotos davon zu machen. Zu Hause wird daraus dann eine Reisereportage. Sein Therapeut erklärt ihm das so: Er will für sich selbst die besonderen Momente vor dem Vergessen retten. Und weil er dazu ein ausgesprochen sozialer Mensch ist, lässt er uns an seinen Erlebnissen und Erfahrungen großzügig teilhaben: Rosenmontag auf La Palma? Die Weite des Meeres vom Balkon eines Kreuzfahrtschiffes aus bestaunen? Mit Ureinwohnern in der Südsee kochen? Manchen Spleen kann man eben nicht therapieren – nur liebevoll annehmen. Seine Bücher sind u.a. bei Amazon erhältlich. Wer einen erweiterten Blick auf sein Schaffen und seine Umtriebigkeit erhaschen möchte, besucht ihn hier: volker-keller.vegesack.de

Seine weiteren Beiträge auf unserem Reiseblog: 

Goa – die berühmteste Strandregion Indiens

Israel – Land zwischen den Welten

Text & Fotos: Volker Keller

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